Buchhandlung BOOKandPAPER.store

Suche

Talmi

Talmi

Tauschinski, Oskar Jan

Hardcover
2019 Edition Atelier
Auflage: 1. Auflage
344 Seiten; 20.5 cm x 12.5 cm
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-99065-018-9

Rezension verfassen

€ 25,00

in den Warenkorb
  • versand- oder abholbereit in 48 Stunden
  • Versandkostenfrei österreichweit ab 50 Euro
  • Als E-BOOK (EPUB) erhältlich
Hauptbeschreibung
Aus dem Leben eines charmanten Taugenichts in der Zwischenkriegszeit, erzählt von einer Frau, die ihn längst durchschaut hat und ihn dennoch liebt. Der Chauffeur Ernst Ronasek will hoch hinaus und erschwindelt sich in den rasanten 1920ern als »Freiherr von Ronay« Herz und Geld so mancher reichen Dame. Sehr zum Verdruss der Künstlerin Susanne Sedlak, die neben den Sorgen über den aufkommenden Nationalsozialismus auch um das Seelenheil ihrer heimlichen Liebe bangt. Als die Nazis die Macht ergreifen und ihre Künstlerkollegin Aglaia deportiert wird, muss Susanne feststellen, dass Ernst die Seiten gewechselt hat ...
»Talmi« ist ein tiefgründiger und dennoch gewitzter Roman über Täuschung und Opportunismus, über Kunst und Widerstand – und über aufopferungsvolle Liebe.

Zitat aus einer Besprechung
»Kein reines Schelmenstück, nicht nur das verschmitzte Porträt eines gewitzten Münchhausens, sondern ein erstaunlich prägnantes, vielschichtiges Bild der Zeit und ihrer Bewohner.« – Mikka Gottstein, Mikka liest das Leben

(Susannens Aufzeichnungen vom 22. März 1945)

Ach, nun habe ich so viele Seiten mit meinem Besuch bei der Sperl vertan und hätte doch viel Wichtigeres zu schreiben. Immer drängt sich Aktuelles in die Erzählung. Es fließt aus der Feder und läßt sich nicht aufhalten. Wie schwer es Schriftsteller haben müssen, nicht vom Thema abzukommen, sehe ich jetzt erst, seit ich mich zu dieser Niederschrift entschlossen habe. Und ich tat es doch unter anderem auch darum, weil ich der hämischen Übermacht des Augenblicks entfliehen wollte – fort, zurück in eine Welt, wo alles schon feststeht und Gestalt angenommen hat, wenn auch nur die Gestalt des unabänderlich Vergangenen.
Nun möchte ich weitererzählen, von dir, Ernstl, von Aglaia und von mir. Ich möchte mich wieder in die Jahre 1926 und 1927 zurückversetzen und fühle mich kaum imstande dazu, so zerschlagen bin ich von dem, was heute passiert ist.
Und was ist denn schon passiert? Nichts weiter, als daß wir nun auch im Geschäft Bomben abbekommen haben. Einmal mußte es doch geschehen. Jeden Tag fällt das Los auf andere. Aber diesmal war man eben selbst dabei. Man saß in dem Keller des Hauses, das getroffen wurde. Zwar ist alles recht glimpflich abgelaufen, die Bombe explodierte auf dem Pflaster unmittelbar vor dem Haustor. Wir waren weder verschüttet noch am Verlassen des plötzlich stockfinsteren Kellers gehindert. Aber die Erschütterung und der Höllenlärm genügten auch so.
Glücklicherweise stand Margot gerade wieder einmal einen Augenblick neben mir.
»Nu kommen se wieder anjeflochen!« hatte sie atemlos vor Sensationsgier gerufen. »Hören Sie das Brummen? Denken Sie bloß, Frau Sedlakchen, oben im Hausflur steht ’n Jefreiter, der kann keen Wort Deutsch. Muß ’n Volksdeutscher sein. Wir haben aber doch mit ihm jeredet, die Angela und ich ... So’n ulkiger Mensch! Valerie heißt er mit’m Vornamen. Nu sagen Sie, ein Mann heißt Valerie ...«
In diesem Augenblick geschah es. Es wurde finster und Margot fiel mir in die Arme. Die Klavierlehrerin, die mir gegenüber saß, war die zweite, die kreischend auf meinem Schoß landete. Dann kam ein donnerartiger Lärm und dann ein eigentümliches Rieseln in den Mauern und im Gewölbe, das fast noch unheimlicher klang, und dazu die in gleichen Abständen schrillende Alarmglocke im Geschäft.
Als wir hinaufkamen, waren alle Auslagenscheiben eingedrückt, und die Ladentür, die ich selbst verschlossen hatte, stand sperrangelweit offen. Der Luftdruck hatte sie geöffnet und gleichzeitig die Alarmvorrichtung, die uns vor simplen Einbrechern schützen sollte, ausgelöst. Törichte Erfindung! Kaum installiert und schon wieder hinter der Zeit zurück! Aber mit der Zeit läßt sich nicht Schritt halten. – Nun jammerte die Glocke ihre sinnlose Anklage durch die Staubwolken, und es dauerte lange, ehe sie zum Schweigen gebracht werden konnte.
Das schmiedeeiserne Haustor war herausgerissen worden und lag in der Einfahrt. Darunter zog man die Leiche des Wehrmachtsangehörigen hervor, der nicht Deutsch gekonnt hatte. Sonst waren keine Opfer zu verzeichnen.
Den ganzen Tag haben wir Glasscherben gekehrt, teils im Geschäft, teils in der Chefwohnung im ersten Stock. War man unten, so mußte man die in Wut umgesetzte Verzweiflung des Kommerzialrates ertragen, half man oben, so galt es, die weinende Gnädige zu trösten.
Als wir endlich so weit waren, um heimgehen zu können, rief sie uns nach: »Euch geht’s gut. Ihr rennt’s fort, und ich muß auf der Mistg’stätten sitzenbleiben!«
Wir sahen einander an. – Die meisten haben daheim bereits ähnliche Trümmerhaufen gehabt, und wenn nicht, so konnten sie vielleicht heute welche vorfinden. Aber das ist anscheinend nicht das gleiche. Wir haben ja nicht so viel zu verlieren.
Genau genommen, sind wir selber nicht berechtigt, uns über die Phantasielosigkeit der Gnädigen aufzuhalten. Dem einzigen, der diesmal wirklich getroffen war – dem Mann, der angeblich Valerie geheißen hat –, galt keiner von unseren Gedanken. Er war uns fremd. Niemand hatte bis dahin gewußt, daß er lebte. Nun vergaßen wir auch wieder sofort, daß er tot war. Ich selbst, die ich das niederschreibe, hatte keine andere Einstellung zu diesem Leichnam als die anderen. Aber nun denke ich, daß vielleicht irgend jemand über den Toten grübeln und trauern wird und versuchen wird, seine Lebensgeschichte zu rekonstruieren wie ich die deine, Ernstl! Und vielleicht umstanden deine Leiche damals in Neufähr auch nur Gleichgültige ...